Am 29. Dezember 1336 geschah das Wunder. Seither blüht dort ein wilder, dorniger Pflaumenbaum alljährlich zweimal, nämlich im Dezember und wenige Monate später nochmals im Frühling. Im Dezember trägt er lediglich Blüten, im Frühling dagegen Blüten, Blätter und Früchte.
Am 29. Dezember 1336 schritt die junge, hübsche Frau Edigia Mathis eilig ihrer Wohnung im Städtchen Bra zu. Sie kehrte von einem Besuche bei lieben Verwandten, die auf dem Lande draußen wohnten, heimwärts. Sie hatte dort wohl allerlei Rat geholt, denn sie sah voll freudiger Sorge ihrem ersten Kinde entgegen. Allzurasch waren die trauten Stunden daheim vergangen und nun breiteten sich schon frühe Abendschatten über die winterlichen Stoppelfelder aus.
Egidia beschleunigte ihre Schritte. Es war in jener Zeit keineswegs ratsam, im Dunkeln auszugehen. Hungernde, verwahrloste Söldner aus Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz, die von verfeindeten Burgherren zur Winterszeit oft fristlos und ohne Sold entlassen wurden, strichen beutegierig umher. Wehe jenen, die ihnen schutzlos in die Hände fielen!
Egidia spähte immer ängstlicher durch die grauen Nebelschwaden. Plötzlich hielt sie erschrocken den Atem an. Standen dort vorn an der Wegkreuzung, wo sie vorbei mußte, nicht zwei solch unheimliche Gesellen? Ja, schon liefen sie ihr mit wüstem Lachen entgegen. Von Todesangst getrieben, eilte Egidia mit letzter Kraft zu einem Bildstock am Wegrand, den ein Gemälde der Gottesmutter mit dem göttlichen Kinde zierte und schrie, das Madonnenbild umklammernd: «O Maria, hilf!»
Als trotzdem die ruchlosen Söldnerhände nach ihr griffen, brach aus der Bildstocknische plötzlich himmlisches Licht hervor. In majestätischer Schönheit erschien die Himmelskönigin. Mit ihrer Linken die zitternde Egidia beschützend, wies die Mutter aller Mütter die sittenlosen Gesellen strafend von dannen. Vor dem Blick der Allerreinsten ergriffen die Unholde in wilder Panik die Flucht.
Unendlich dankbar blickte die brave, junge Frau zu ihrer Retterin empor, die sie lächelnd beruhigte, ehe sie verschwand.
Der ausgestandene Schrecken aber hatte Egidia stark ermüdet und geschwächt. Erschöpft sank sie zu Füßen des Bildstockes, der von einem wilden, halberfrorenen Pflaumenbaum umrankt war, nieder. Doch bald wurde sie durch leises Wimmern aus ihrer kurzen Ohnmacht geweckt. Vor ihr, auf dem winterkalten Boden, lag wohlgeboren ihr Kindlein. Und während Egidia voll Mutterliebe rasch, so gut sie es vermochte, ihr Kleinod einhüllte, gewahrte sie voll unsäglichen Staunens, wie der wilde Pflaumenstrauch, der vor der Erscheinung seine erstarrten Zweige arm und leer in die eisige Bise gestreckt hatte, nun übervoll von weißen Blüten prangte.
Die Paradiesesaugen der Unbefleckten hatten ihn, den dornigen Wildling, zum Zeugen ihres Wunders erkoren und, mitten im Winter, mit tausend weißen, makellosen Blüten zum Sinnbild der Reinheit gemacht.
Als Egidia glücklich zu Hause anlangte, erzählte sie alles ihrem Gatten. Erst glaubte er, sie rede im Fieber. Als er anderntags aber hinausging vor die Stadt, konnte er mit eigenen Augen den Blütenbaum bewundern und Hunderte mit ihm. Nie hatte ein Pflaumenbaum oder ein anderer Strauch, dort um diese Zeit geblüht. Neben ihm und rings um ihn streckten alle andern Sträucher, nach wie vor, ihre kahlen Zweige gen Himmel.Und seither ist es so geblieben. Seit mehr als sechshundert Jahren schmückt sich jener Pflaumenbaum, als einziger weit und breit, mitten im Winter mit dem weißen Wunderkleid seiner Blüten. Zirka vom 20. Dezember bis Mitte Januar dauert diese seine erste Blütezeit. Ohne Blätter, ohne Früchte, als echtes, strahlendweißes Bouquet, begrüßt er jeweils das neugeborene Christkind und dessen allerreinste Mutter Maria in den Weihnachtstagen. Dann aber blüht er im Frühling erneut, mit allen seinen andern Artgenossen, und diesmal treibt er auch Blätter und Früchte, wie zur normalen Zeit. Viele Naturforscher haben sich im Laufe der Jahrhunderte mit dem Pflaumenbaum von Bra beschäftigt, doch bis heute konnte keiner eine einwandfreie wissenschaftliche Erklärung finden. Bodenbeschaffenheit, Witterung, Wartung, unterirdische und oberirdische Kräfteeinflüsse wurden erforscht, ohne Ergebnis. Kämen sie in Frage, so müßten auch die andern Pflaumenbäume gleicher Art ringsum doppelte Blüte treiben. Kein anderer Strauch, kein anderer Baum konnte jedoch, trotz bester spezieller Pflege, neben dem Blütenbaum zur Blüte gebracht werden. Hingegen haben Zweige des Wunderbaumes, die man anderswo pflanzte, auch dort zweimal geblüht.
So wurde z. B. auf Wunsch Papst Leo XIII. ein Reis des wilden Pflaumenbaumes von Bra in die Vatikanischen Gärten in Rom verpflanzt. Und seither erfreut auch dieses Bäumchen alle durch seine doppelte Blütenpracht im Winter und im Frühling!
Gottes Wunder! Wer vermöchte sie zu leugnen? Jedermann kann sich mit eigenen Augen von diesem Naturwunder, das seit 600 Jahren anhält, überzeugen, denn Bra liegt nur zirka 50 km von Turin entfernt. Wenn das eine oder andere Mal, innerhalb langer Zeitperioden, die Dezemberblüte ausfiel, dann beunruhigte sich das Volk von Bra so, wie die Bewohner von Neapel, wenn die Verflüssigung des St. Januariusblutes ausbleibt und fürchtet Heimsuchungen.
Heute erhebt sich über der Wunderstätte in Bra eine prächtige Wallfahrtskirche zu Ehren der lieben «Madonna dei fiori», die dort seit Egidia Mathis, unzähligen andern, von Angst und Sorge bedrängten Seelen, zu Hilfe kam.
Dr. Maria Haesele, "Santa Rita", 14. Jahrgang, Nr. 4/5, Dezember 1964 / Januar 1965
Siehe auch Vedere pure Voir aussi See also:
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